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Alt 13.08.2003, 03:26
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Unglücklich

Adiós, Vocho, mein Eselchen

Nach 67 Jahren der endgültige Abschied – wenn in Puebla die letzte Serie des
VW-Käfer vom Band geht, verliert Mexiko einen wahren Volkswagen

Von Peter Burghardt

Puebla , im Juli – Der Schlüssel steckt, gleich werden sie ihn wegfahren. Raus
auf den Werksparkplatz, wo schon ein paar hundert Exemplare dieser letzten Serie
stehen, später auf Lastwagen die 116 Kilometer rauf nach Mexiko-Stadt,
vielleicht rüber zum Containerhafen von Veracruz und mit dem Frachtschiff nach
irgendwo. Benjamin Perez streicht über die gebogenen Kotflügel und verchromten
Scheinwerferfassungen wie ein Stylist über Wangen und Augenlider. Sieht dieses
Fahrzeug nicht aus wie ein freundliches, etwas tollpatschiges Lebewesen, das
viel Zuneigung braucht? Ein Arbeiter poliert Kratzer und kleine Flecken,
Schichtführer Perez kontrolliert das blassblaue Blech, das Spiegelbild zieht
sein rundes Gesicht in die Länge. „Er soll perfekt sein“, ruft er, „tadellos.“


Darauf achtet der klein gewachsene Mann im Dienste von VW Mexiko seit 1971,
deshalb wird dies für ihn und die übrigen 270 Facharbeiter der Abteilung ein
sehr persönlicher Abschied. Seit 32 seiner 49 Lebensjahre arbeitet Perez
wochentags von sechs bis drei Uhr an dieser Schöpfung, die bei den Deutschen
Käfer heißt, im mexikanischen Prospekt Sedan und bei den Mexikanern Vocho, ein
nicht übersetzbarer Kosename für Volkswagen. Als Mechaniker hat er auf diesen
330 Hektar im Norden von Puebla Hunderttausende Trittbretter mit Gummibelag
montiert und Hunderttausende Stoßstangen mit Blinker. Er war dabei, als hier am
15. Mai 1981 der weltweit zwanzigmillionste Käfer vom Band ging, bis Ende Juni
waren es 21531022. An Ausgang 8 begleitet er jetzt noch 57 Vochos pro Tag. Das
schweißt zusammen. „Ich liebe das Auto, es ist mein Leben“, sagt er, und sicher
liebt er es noch mehr, seit das Ende der Beziehung naht.


Ein paar Gebäude weiter sitzt Thomas Karig in seinem Büro und schaut auf die
Autobahn, in deren Morgenstau wie üblich Hunderte von bunten Käfern stecken.
„Letzten Endes ist es eine Business-Decision“, sagt der deutsche PR- Direktor
der Filiale. Wie Manager das eben so sagen, wenngleich zum Finale auch ihn die
Wehmut überkommt. „Irgendwie ist es halt ein nettes Auto, sympathisch“, als
Student hatte Karig selbstverständlich ebenfalls einen Käfer. Eine
Geschäfts-Entscheidung eben, genauso wie die, 2000 der 14000 Angestellten in
Puebla zu entlassen, weil der Gesamtverkauf eingebrochen ist. Getroffen wurde
sie weit weg in Wolfsburg, wo die Zentrale bekannt gab, die Produktion ihres
berühmtesten und erfolgreichsten Markenartikels in diesem Sommer einzustellen.
Es lohnt sich nicht mehr, 2002 wurde VW bloß noch 23 000 Käfer los, 1993 waren
es 100000. Das war abzusehen, und überraschend daran ist wohl vor allem, dass es
so lange gedauert hat. 67 Jahre.


Eine deutsche Geschichte


Natürlich ist dies zunächst eine deutsche Geschichte, die Geschichte des
Unternehmens VW. „Ich hab’ einen Teil davon gelesen“, sagt Fachmann Perez. Er
weiß von Adolf Hitlers Auftrag und Ferdinand Porsches Exposée vom 17. Februar
1936 „betreffend den Bau eines deutschen Volkswagens“. Spezialisten kennen auch
Heinrich Nordhoff, mit dem es nach dem Krieg richtig losging.1953 wurden bereits
88 Nationen mit dem Wirtschaftswunderschlitten beliefert, am 17.Februar 1972
übertraf die Nummer 15.007.034 den Weltrekord des Ford T, später bekam der Käfer
den Titel „Auto des Jahrhunderts“.


Die meisten wussten nicht einmal, dass dieses Ding überhaupt noch hergestellt
wird. Das letzte deutsche Stück steht seit 25 Jahren im VW-Museum, es stammt aus
Emden, in dessen Hafen 1985 auch die letzten Import-Modelle eintrafen. 1996 war
Feierabend in Brasilien. Die globalisierte Technik mit ihren Satellitensystemen
und Turbodieseln ist ja längst hinweggeflogen über den eiförmigen Klassiker,
obwohl sich die Konstrukteure im Detail alle Mühe gaben. 1972 kam die
Panorama-Frontscheibe, 1974 der 1,6-Liter-Motor mit 46 PS, 1981
Halogenscheinwerfer, 1985 Kopfstützen, 1989 die elektronische Zündanlage, 1991
der Katalysator und 1993 sogar eine Einspritzanlage. In den USA wird der alte
Beetle nicht mehr zugelassen. In Deutschland bräuchte er unter anderem einen
Airbag. Nun soll also auch das letzte Reservat verschwinden, doch die Art hält
sich nirgendwo so tapfer wie unter Mexikos Vulkanen.


„Der Käfer hat Mexiko motorisiert“, sagt Karig, 1,7 Millionen Vochos wurden hier
verkauft, ein wahrer Volkswagen. Billig und robust war gefragt in einer Nation,
deren 100 Millionen Einwohner zur Hälfte in Armut leben und über Straßenlöcher
hüpfen. Dass das Schlachtross drinnen oft lauter ist als draußen und wahlweise
eiskalt oder heiß, dass die Scheiben beschlagen und die Kupplung bockt – weniger
wohlhabenden Mexikanern sind solche Kleinigkeiten so egal, wie sie es einst den
Nachkriegsdeutschen waren.


Der aktuelle Sedan alias Vocho steht mit 77000 Pesos, etwa 6500 Euro, auf der
Liste, die Konkurrenten sind teurer. Und komplizierter. „Das ist ein burrito“,
sagt Perez, ein Eselchen. Treu, zuverlässig, pflegeleicht und in Ernstfällen
Sofortmaßnahmen zugänglich. Die Benzinpumpe lässt sich mit dem Seidenstrumpf
abdichten, der Türstöpsel mit dem gebogenen Draht anheben, und Ersatz findet
sich an den interessantesten Orten. Ein Taxifahrer berichtet, er habe einmal in
der Provinz nach Ersatzteilen gesucht. „In der Apotheke“, hieß es, und da gab es
sie tatsächlich. Auch von Notgeburten auf dem Rücksitz wird berichtet. Angeblich
wurde der Vocho nach Unwettern schwimmend gesehen.


Allein die Taxifahrer! Nur durch die Stadt Mexiko mit ihren 20 Millionen
Menschen scheppern 80000 meist grün-weißer Vocho- Droschken. Der Beifahrersitz
wurde entfernt, was Gästen das Einsteigen im Fond erleichtert und bisweilen auch
Kriminellen, die ihre Kunden in die Mitte nehmen und zum nächsten Geldautomaten
befördern lassen. Ältere Baujahre tragen eifrig dazu bei, dem Moloch die Luft zu
verpesten, weshalb die linke Stadtverwaltung die Dreckschleudern in Rente
schicken will. Für den Erwerb moderner Viertürer zahlt sie Zuschüsse, die
Auswahl ist jetzt groß geworden. Der Markt wird überschwemmt, seit Mexiko zur
nordamerikanischen Freihandelszone gehört. Bei VW ist inzwischen eine eckige
Kiste mit Frontantrieb der Renner, sie heißt Pointer und wird aus Brasilien
importiert.


So hält die Zukunft Einzug, aber bei Benjamin Perez und seinen Kollegen ist noch
manches wie früher. Im Presswerk stanzen noch 1000 Kilogramm schwere Stempel aus
dem Hause Weingarten wie 1964 die Vordertüren aus dem Metall. Am trägen
Fließband bohren und schrauben unter den Altaren der Jungfrau von Guadalupe noch
richtige Menschen. Der vormalige Gouverneur von Puebla hat mal gesagt, in seiner
Gegend gebe es zwei Kunsthandwerke: Eine regionale Bastelarbeit und den Vocho.
50 Meter weiter justieren computergesteuerte Roboterarme die Modelle Jetta und
den New Beetle, der nur hier gebaut wird, seit 1998 etwa 625000 Mal. Bei der
Expo in Hannover stand der Käfer-Enkel im mexikanischen Pavillon und hängt jetzt
in mehrfacher Ausführung als neue Galionsfigur am Eingang zum VW-Werk.
Schneller, komfortabler. Und viel teurer.


Erinnerung, spring an


Es ist ein Jammer. Romantiker werden beim Besuch leicht sentimental, es genügt
der Geruch von Venyl, das Geräusch der Hupe, das Röhren des Motors. Man erinnert
sich an nächtliche Urlaubsfahrten und die Panne hinter Innsbruck, zwei Tage
später war ein neuer Vierzylinder installiert, das lohnte sich beim Käfer. Man
denkt daran, wie die BMWs im Schneematsch steckten und der Käfer den Berg
bezwang. Der Begleiter aus der Werbeabteilung berichtet von der Bitte ehemaliger
VW-Mitarbeiter aus Wolfsburg, sich nochmal hineinzusetzen. „Die erzählen dann
ihr ganzes Leben.“


Die abschließende Vocho-Auflage wird an diesem Donnerstag vorgestellt. Sie trägt
den Titel „Ultima Edicion“, ist in zwei Farben mit Reminiszenzen wie
Weißwandreifen zu haben und trägt unter anderem das Logo von Wolf und Burg auf
dem Lenkrad, für das der Designer einst zehn Pfennig pro Ausgabe bekam. Die
Nachfrage soll zeigen, wann endgültig Schluss ist, was im günstigen Fall
vielleicht doch noch dauert. Wenn er darf, dann wird Benjamin Perez jedenfalls
auch den letzten Vocho bis zum Ausgang begleiten. „Wie einen Sohn“, sagt er.
Vielleicht gibt er ihm sogar einen Kuss.
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